Story Edition #1

Captain Narrowbelt und die königliche Seeflotte

Ein guter Tag für Captain Narrowbelt begann mit einer Flasche voll Rum und einem Schlachtplan.
Nichts geschah in Port Narrow, ohne dass er davon erfuhr, und so hatte er in den letzten Tagen immer öfter gehört, dass Matrosen, der im Port Narrow vor Anker liegenden Schiffe etwas von einer außerplanmäßigen Abfahrt der königlichen Flotte gehört hatten. Leider hatten sie aber keine genaueren Informationen, die Aktion schien unter großer Geheimhaltung zu laufen.

So beschloss Captain Narrowbelt, seinem alten Gefährten Irontooth einen längst überfälligen Besuch abzustatten.

[Lesezeit: ca. 15 Minuten]


In der Nähe seines Schiffsliegeplatzes befand sich eine kleine, unscheinbare Taverne.

Ihr Logo war ein stählerner Zahn, der als Rum Krug diente.

Wie jede Taverne im Rum-Schmugglerhafen Port Narrow, hielt auch diese eine große Auswahl der besten Rumsorten für ihre Gäste bereit. Beute aus allen sieben Weltmeeren, sowohl aus der Neuen als auch aus der Alten Welt. Aber das hielt Narrowbelt nicht davon ab, wie üblich mit seiner eigenen Flasche einzutreten. So öffnete er, die Flasche mit der Faust fest am Hals gepackt, energisch die alte, quietschende Holztür.

Story Ed. 1 – Gleiche Flasche, aber Anker-Deko

Jedes Mal, wenn Narrowbelt einen Raum betrat, herrschte für ein paar Sekunden Stille. Er war ein gefürchteter Pirat unter Piraten und ein verhasster Mann unter allen anderen.

„Ay Captain“, schaute Irontooth zu ihm auf. Er war dabei, die Rum-Pfützen auf den Planken, die seine Bar waren mit einem schmutzigen Lappen zu neuen Pfützen zu verwischen, was ihm wie immer gut gelang. „Was führt Euch hierher?“

Irontooth war auch Pirat, das Alter seiner Knochen machte ihm jedoch zu schaffen und so hatte er beschlossen, den Jüngeren das Piratendasein zu überlassen. Vor ein paar Jahren hatte er seinen Hut an den Nagel gehängt und anschließend eine Taverne um diesen Nagel herum gebaut.

Das Band der Freundschaft mit Narrowbelt aber wurde dadurch nur noch stärker.

„Du bist den ganzen Tag hier, und die Leute reden…“. Narrowbelt beugte sich über die Theke um leiser sprechen zu können. „Mein Freund, habt ihr etwas über die königliche Seeflotte gehört? Jede Art von Information wäre willkommen“.

„Nein, Captain, ich weiß weniger als Ihr, die Leute hier reden nicht wirklich über die Flotte der Krone. Was habt Ihr mit ihnen zu tun?“

„Als ich das letzte Mal auf dem Meer war, sind wir zufällig mit einem königlichen Schiff zusammengestoßen. Sie fingen an, uns zu verhöhnen und schossen zum Spaß auf uns, beschimpften uns, Du weißt ja, wie sie sind“, antwortete Narrowbelt. „Ich werde ihnen eine Lektion erteilen.“

„Warum habt Ihr nicht zurückgeschossen, Captain?“, fragte Irontooth.

„Oh, das habe ich, aber ich bin immer noch sauer, ich will ihnen einen Denkzettel verpassen und sie ebenfalls verhöhnen. Wenn Du auch nur einen dieser Männer hier etwas über die königliche Flotte sagen hörst, such mich auf!“. Narrowbelt blickte Irontooth eindringlich an, erhob sich von seinem Hocker und ging Richtung Ausgang. Die alte Holztür in der einen Hand, seine Rumflasche in der anderen drehte er sich im Gehen noch einmal zu Irontooth um, nickte ihm stumm zu und griff sich mit der Hand zum Gruß an die Krempe seines Huts. Irontooth nickte stumm zurück und widmete sich wieder den Pfützen auf seiner Theke. Die hölzerne Tür schloss sich mit einem lauten Quietschen und langsam wurden die Gespräche an den Tischen wieder lauter.

Narrowbelt fragte weiter im Hafen herum, aber niemand wusste viel über die königliche Flotte. Piraten sprachen nicht viel über sie, da sie wussten, dass es keine großen Chancen gab, die Flotte der Krone auszurauben, aber er fragte weiter und gab die Hoffnung nicht auf.

Als die Nacht über Port Narrow hereinbrach, ging er zurück in die Taverne.

„Captain, ich wollte gerade nach Euch schicken. Wir haben jemanden, der Euch gute Informationen geben könnte“, rief Irontooth.

Sie gingen in den Keller. Dort, mit den Händen hoch an einen Holzbalken an der Decke gekettet, stand ein junger Mann.

Es roch abscheulich. Der Junge war nackt und schmutzig. Wasser tropfte von ihm herab auf den schlammigen, rutschigen Kellerboden. Immer wieder ließ er sich und seinen mageren Körper erschöpft in die Ketten fallen. Irontooth nahm den Lappen, mit dem er zuvor eine der Pfützen auf seiner Theke verteilt hatte von der Schulter und wischte dem Mann durchs Gesicht.

„Er ist von der königlichen Seemannschaft. Einige unserer Jungs haben ihn auf einer Patrouille in den Gewässern gefunden. Eines ihrer Schiffe ist gesunken, er hat überlebt, also haben sie ihn hierher gebracht“, erklärte Irontooth.

„Weißt Du, wo Du bist, Junge?“, fragte Narrowbelt.

„Auf irgendeiner geheimen Insel. Zumindest haben sie mir das gesagt“, antwortete der Mann schwach.

„Ich hoffe wirklich, dass seine Augen bedeckt waren, bis er hierher kam! Wie weit war er von hier entfernt, als sie ihn fanden?“, fragte der Captain.

„Natürlich, Sir. Er war sehr weit weg und war zudem bewusstlos“, sagte Irontooth, „Komm, Junge, erzähl dem Captain von der königlichen Seeflotte und dem Transport, von dem Du mir erzählt hast.“

„Gibt es einen Transport?“, fragte der Captain.

„Ja, die Hochzeit der Königin steht bevor. Die königliche Seeflotte wird die hochwertigsten Früchte, der alljährlichen Trauben-Ernte abholen und zur Hochzeit transportieren. So sagen es die Gerüchte.“

Captain Narrowbelt fing an zu lachen, küsste den Mann auf die Stirn und bat ihn, fortzufahren.

„Sie bringen sie von der Perleninsel. Sie laufen morgen aus, und es wird etwa einen Monat dauern, bis sie dort sind. Ich weiß, dass sie nur einen Tag dort bleiben, um zu laden und dann wieder in Richtung Palast aufbrechen werden.“

Perleninsel, das war die unter Seefahrern gebräuchliche Bezeichnung für die Insel Piscari, die auf der anderen Seite des großen Kontinents lang. Ihren Spitznamen hatte sie aufgrund einer besonderen Traube erhalten, die nur auf dieser Insel wuchs und die bei der Krone seit Generationen sehr beliebt war.

Diese überaus seltene Traubenart wuchs an riesigen Bäumen, die größer waren, als alle sonst je da gewesenen Blattgewächse. Die Bäume wuchsen nahe der Steilküste Piscaris und ihre Früchte hingen wie fein säuberlich aufgereihte Perlen, an meterlangen Rispen die steilen Hänge hinab.

Jedes Jahr zog die königliche Flotte auf Geheiß Ihrer Majestät aus, um diese unvergleichlich süßen und gehaltvollen Trauben zu ernten.

Die Insel lag nicht weit hinter der Ausfahrt eines künstlichen Kanals, der bereits vor Jahrhunderten geschaffen worden war, um die neuen und alten Weltmeere miteinander zu verbinden.

„Zur Perleninsel? Das würde etwa 2 Monate dauern, richtig?“

„Ja, Sir.“

„Irontooth, wir haben Zeit, uns vorzubereiten. Wir müssen das Schiff vollständig reparieren, eine gute und vertrauenswürdige Mannschaft finden und einige Waffen besorgen.“

Der Captain ging ein paar Stufen hinauf, blieb auf halber Höhe stehen und drehte sich um.

„Ich danke Dir, junger Mann.“ Er nickte dem Mann mit ernstem Gesicht zu.

„Du kannst ihn losbinden Irontooth, er könnte niemals herausfinden, wo wir sind. Sorge dafür, dass niemand mit ihm spricht. Halte ihn in der Taverne fest. Behalte ihn im Auge.“

Narrowbelt fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr, aber er hatte noch eine Menge Arbeit vor sich, die seine volle Aufmerksamkeit fordern würde.

Er begann mit drei anderen Piraten, die wie er gelernte Schiffsbauer waren, an seinem Schiff, der M.S. Kasilly zu arbeiten.

„Sir, ich habe mir gedacht, wir könnten ein paar geheime Lagerräume einbauen. Dort könnte man Waffen oder Rum oder beides verstecken“, sagte einer der Piraten.

„Das ist keine schlechte Idee. Ich hätte gerne einen geheimen Raum hier auf dem Dock für Munition und einen weiteren in meinem Zimmer für Rum“, antwortete der Captain lachend. Die Initiative und der Ideenreichtum seiner Männer gefielen ihm gut.

Sie reparierten alles auf dem Schiff. Sie fügten Fächer hinzu und organisierten alles, damit die gestohlenen Früchte sicher auf die Insel gebracht werden könnten.

Die ganze Reparatur dauerte fast einen Monat. In der letzten Woche strichen sie das Schiff neu an.

„Es ist fast perfekt“, sagte Narrowbelt und betrachtete die Kasilly.

„Warum ‚fast‘, Sir? Was fehlt noch?“, fragte einer der drei Schiffsbauer.

„Die Früchte, es fehlen die reifen roten Früchte! Was würde ich darum geben, das Gesicht der Königin zu sehen!“, schallte Narrwobelt lachend.

Gut gelaunt gingen die Vier in die Taverne, um die Fertigstellung des Schiffes zu feiern.

„Junge, bring uns Rum“, rief der Captain. „Das Schiff ist fertig“, wandte sich Narrowbelt verheißungsvoll Irontooth zu.

Story Ed. 1 – Gleiche Flasche, aber Anker-Deko

„Ich kann es kaum erwarten, es zu sehen, Captain. Ich bin sicher, es ist prächtig.“

Der junge Mann kam mit vier Krügen Rum. Er blickte die meiste Zeit zu Boden, nur um zwischendurch kurz den Blick zu heben und dabei jedes Mal unsicher von Ohr zu Ohr zu lächeln.

„Du brauchst nicht zu lächeln, wenn Du mich siehst, Junge. Ich will und brauche es nicht, dass man mich mag“, sagte der Captain und wendete sich wieder von ihm ab.

Der Mann nickte, drehte sich um und ging zu einem der hinteren Räume.

„Komm zurück“, rief Narrowbelt. „Wenn ich richtig gerechnet habe, müsste die königliche Flotte jetzt in der Nähe der Bärtigen Insel sein, richtig?“

„Ja, Sir. Es sind wahrscheinlich nur noch wenige Tage.“

„Ich bin dabei eine gute Mannschaft zusammenzustellen. Willst Du mitmachen?“

Der junge Mann schaute erstaunt und diesmal war sein Lächeln echt: „Natürlich, Sir!“.

„Versprich mir, dass Du nicht die Seite wechselst, wenn Du Deine Leute siehst.“

„Ich schwöre es, Sir. Sie haben mich zurück gelassen, als ich dem Tod geweiht war, ich schulde ihnen gar nichts mehr!“

„Irontooth, kommst Du mit?“, fragte der Captain.

„Ich dachte schon, Ihr würdet nie fragen. Es wäre mir ein Vergnügen, mein Captain.“

„Also: Ich, dieser Mann,…“, Narrowbelt unterbrach sich selbst: „Wie heißt Du eigentlich mein Junge?“

„Daniel, ich heiße Daniel, Sir“ erwiderte der junge Mann.

„Also ich, Daniel, Irontooth, und meine drei Schiffsbauer. Das macht 6 Leute, wir brauchen etwa 14 weitere“, rechnete der Captain.

Im nächsten Monat beobachtete Narrowbelt jedes Schiff, das auf die Insel kam. Er erkundigte sich nach allen Piraten, die er sah. Er verbrachte viel Zeit in der Taverne, hörte sich die Geschichten der Anderen an und versuchte herauszufinden, wer mutig genug war, mit ihm zu kommen um seine Mannschaft zu verstärken.

Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, und er hatte bisher nur 19 Männer zusammen.

„Nehmen wir 19, Captain“, sagte Irontooth. „Ihr verfügt über 100 Männer der P.N.X. die Euch alle treu ergeben sind. Warum sind Euch 19 zusätzliche Männer nicht genug?“

„Erstens liebe ich es Leute zu rekrutieren, sie zu überzeugen, sich mir anzuschließen. Zweitens habe ich vor, nicht mit einem, sondern mit 4 Schiffen und jeweils 30 Mann zu starten. Ich brauche also genau 20, keine 19 weitere Männer“, antwortete er forsch und schaute Irontooth dabei mit einem Blick an, der keinen Widerspruch zuließ.

„Ihr könntet Christopher fragen, Sir.“

„Er ist zu alt.“

„Er und ich sind im gleichen Alter. Ich bin mir sicher, dass er gerne ein letztes Abenteuer mit Euch erleben würde“, sagte Irontooth. „Wenn er zu alt ist, dann bin ich es auch, Captain“, fügte er hinzu.

„Bring ihn morgen hierher“, nickte Captain Narrowbelt und schob seinen leeren Rum Krug bedächtig durch eine der Pfützen auf der feuchten Theken-Planke.

Zum ersten Mal seit fast zwei Monaten schlief der Captain gut und das, obwohl in wenigen Stunden der eigentlich schwere Teil des Plans kommen sollte.

Der Morgen brach an, und Narrowbelt ging direkt in die Taverne, wo er mit Christopher und einem vollen Krug Rum verabredet war.

Der Captain und Christopher hatten eine gemeinsame Vergangenheit, die sie einte. Der alte Mann war einer der ersten, die Narrowbelt als Captain vertrauten und er folgte ihm seit dem überall hin, ohne dabei Fragen zu stellen. Christopher war der perfekte Pirat und hatte seinen Job immer perfekt gemacht, aber er war älter geworden und so hatte er nicht mehr dieselbe Freude am Rauben.

„Hallo, Sir“, sagte Narrowbelt und nahm neben Christopher Platz.

„Hallo, Captain“, Christopher nickte lächelnd zum Gruß. „Irontooth sagte mir, dass Ihr mich für ein Abenteuer braucht?“

„Ja, in der Tat. Ich habe vor, die königliche Seeflotte zu bestehlen und ihnen einen Denkzettel zu verpassen. Sie transportieren die alljährliche Trauben-Ernte offenbar früher als sonst um sie der Königin rechtzeitig für die anstehende Hochzeitsfeier zu liefern. Es geschieht in ungefähr einer Woche.“

„Was ist denn in Euch gefahren?“, entfuhr es Christopher. Der Captain schaute ihn ruhig und durchdringlich an. Es gab nicht viele Menschen, die es wagten so mit ihm zu sprechen und er schätzte Christopher, weil er nicht viele Fragen stellte. Langsam nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Krug und stellte ihn, den Blick immer auf den Krug konzentriert, bedächtig auf die Planke der Bar.

„Die Jahre sind auch an Christopher nicht spurlos vorbei gegangen“, dachte Narrowbelt und nickte in sich hinein.

Als der Krug schließlich in einer der Pfützen seinen Platz gefunden hatte, schnalzte er mit der Zunge, wandte sich zu Christopher und legte ihm die Hand auf seine Schulter.

„Um ehrlich zu sein“, lächelte der Captain, „ich bin rachsüchtig und außerdem gelangweilt, und diese beiden Dinge passen nicht gut zusammen. Was sagst Du dazu? Kommst Du mit?“

„Sehr gerne, Captain.“ Christopher legte seine Hand zur Faust geballt auf seine Brust und nickte dem Captain dabei ehrfürchtig und ernst zu.

Die Mannschaft war endlich komplett.

In seiner Phantasie sah Narrowbelt sich bereits Rum trinkend und genüsslich die königliche Trauben-Ernte essend am Strand sitzen und den Sonnenuntergang genießen.

Am nächsten Tag begann er, die Kasilly mit Waffen zu bestücken und sie seefertig zu machen. Als alles zu seiner Zufriedenheit war, stellte er sich auf das Oberdeck und betrachtete mit einem Krug Rum in der Hand bedächtig seine vier Schiffe und seine 120 Mann starke Piraten-Flotte.

„Wir starten morgen und segeln so, dass wir die Route der königlichen Flotte kreuzen. Wir wissen nicht genau, wann sie dort vorbei kommen werden, daher starten wir und warten auf See“, rief der Captain.

„Wie lange kann es dauern?“, fragte ein Mitglied der Besatzung.

„Es könnten ein Tag, eine Woche oder mehr sein. Wir müssen bedenken, dass wir nicht wissen, ob es auf dem Hin- oder Rückweg irgendwelche Komplikationen gab. Wir wissen auch nicht, ob der Wind für die Flotte günstig war. Morgen früh werden wir das Schiff mit Lebensmitteln und Getränken beladen, genug für eine Woche“.

Bereits um 4 Uhr morgens wurden, Flasche für Flasche die Getränke auf das Schiff geladen. Dann folgten die Lebensmittel für 120 Männer. Das Schiff sah aus wie eine königliche Taverne.

Voll beladen und bis unter die Zähne bewaffnet, brach die Flotte mit der M.S. Kasilly an ihrer Spitze auf, zu der Stelle an der Narrowbelt vermutete, schon bald die königliche Flotte zu kreuzen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hieß es Geduld zu haben.

Das Meer war ruhig, die Wellen kaum sichtbar. Von Zeit zu Zeit schlugen sie seicht mit einem glucksenden Geräusch an die eine oder andere Schiffswand. Über ihnen kreisten einige Möwen, die auf Essensreste hofften und bereits vorher in der Luft darum zu streiten schienen. In Sichtweite, zwischen den Schiffen und dem Horizont tauchten immer wieder vereinzelte Delphine auf, die mit einer kleinen Fontäne aus dem Wasser aufstiegen, um mit einem kurzen knarzendem Geräusch, in  einem kurzen Bogen gleich wieder unter Wasser zu verschwinden.

„Es ist schon zwei Tage her, Sir“, sagte ein Besatzungsmitglied.

„Nicht ’schon‘, sondern ‚erst‘. Es sind erst zwei Tage vergangen“, antwortete der Captain. „Hab Geduld, mein Junge!“

Narrowbelt war ruhig, in sich gekehrt. Er wartete geduldig und sagte nicht einmal ein Wort. Bedächtig lief er regelmäßig über sein Schiff um alle Mitgliedern seiner Mannschaft tief in die Augen zu schauen. Diese senkten den Blick wenn er kam, nickten ihm aber respektvoll dabei zu.

Stündlich schaute er zu seinem Mann oben im Ausguck über dem Hauptmast. Dieser erwiderte seinen Blick und schüttelte leise den Kopf. Die Sonne brannte. Die Möwen schrien.

Am dritten Tag war es plötzlich so weit: Etwas hatte die Aufmerksamkeit des Spähers erregt. Kurze Zeit später erschien die königliche Seeflotte am Horizont.

Das Signal ertönte. Der Plan nahm seinen Lauf.

„Ich brauche zehn Männer, die ins Meer springen“, Narrowbelt deutete nach und nach auf zehn seiner Leute, die Mann um Mann einen Halbkreis um ihn bildeten. „Ihr bleibt die meiste Zeit unter Wasser“, sprach er zu ihnen, während er jeden von ihnen nach einander aufmerksam musterte. „Wenn die Schiffe nahe genug sind, schieße ich, das ist das Zeichen zum Entern“. Während dessen nehmen wir die Flotte von zwei Seiten unter Beschuss. Aber denkt daran, dass wir nicht alle von ihnen töten. Wir brauchen Zeugen unseres Sieges!“

Captain Narrowbelt schaute ein paar Sekunden lang gedankenversunken auf die vor ihnen auftauchende Flotte. Es schien so, als würde er die gesamte Schlacht einmal komplett im Kopf durchspielen.

„Nach der Enterung nehmt Ihr die königlichen Schiffe und bringt sie näher an unsere heran, so nah wie es geht. Dann werfen wir ein paar hölzerne Stege, sie sind lang genug, um die Schiffe zu verbinden und fangen an, die Fässer zu bewegen.“

Narrowbelt´s zehnköpfiger Entertrupp löste den Halbkreis und sie sprangen ins Wasser. Alle warteten auf die königlichen Schiffe, die schnell auf sie zukamen. Die Piratenflotte war natürlich längst von Ihnen entdeckt worden. Laute Glocken ertönten herüber. Sie forderten die königliche Crew auf, sich kampfbereit zu machen. Man hörte laute Befehle und donnernde Kampfschreie.

Als der erste Mann Narrowbelt´s auf ein Schiff kletterte, wurde alles wie verrückt. Es dauerte nicht lange und beide Flotten bildeten ein unübersichtliches Gemenge aus Kanonenschüssen, vor Kampflust schreienden Männern, vereinzelnden Schüssen aus aufwendig gestopften Gewehren und singendem Metall, der im Kampf aufeinander stoßenden Messer und Säbel.

Es war ein tosender Kessel, eine Art Blutrausch, gemischt aus Adrenalin, Kampfgeist und verrückten Glücksgefühlen.

So sehr die Menge und die gegeneinander kämpfenden Männer aber auch untereinander tobten, Captain Narrowbelt stand am Steuer seines Schiffes, behielt den Überblick und dirigierte seine Männer Stück für Stück zum Sieg.

Irgendwann wurden die Schreie leiser, vereinzelter und die Schüsse seltener. Der Plan hatte funktioniert. Die Holzplanken verbanden die eigenen mit den Schiffen der Gegner.

Narrowbelt machte zwei große Schritte auf dem Holz, und stand auf dem königlichen Flaggschiff. 

Er wandte sich an den Kapitän des gegnerischen Schiffs und forderte diesen mit einem Säbel an dessen Hals auf, ihnen die Fracht, die Trauben-Ernte der Königin zu übergeben.

„Warum? Sie gehören uns nicht, sie sind für die königliche Hochzeit“, rief ein weinender Mann flehend.

Narrowbelt wendete sich dem verzweifelten Mann zu. „Ihr habt mich verspottet, Ihr und Eure königliche hochdekorierte Flotte. Ich habe es gehasst. Niemand wagt es, mich, Captain Narrowbelt vorzuführen, oder er zahlt den Preis.“

Narrowbelt ließ von dem Mann ab und schaute sich um. Er öffnete eines der erbeuteten Fässer, entnahm eine Frucht und biss demonstrativ genussvoll in Sichtweite des Mannes hinein. Doch, die Frucht nur halb angebissen, stutzte Narrowbelt und verharrte mit fragendem Gesicht:

„Was zum Teufel? Warum schmeckt die so? Diese Frucht enthält keinen Saft, sie ist gefüllt mit Alkohol, mit Rum!“

Er fing an, die Früchte eine nach der anderen aus dem Fass zu nehmen und sie auf den Boden zu werfen. Nach circa 30 Früchten hatte er Gewissheit. Triumphierend wendete er sich an die gesamte Flotte und rief mit fester Stimme: „Die Fässer sind nicht mit Früchten gefüllt, sie bedecken lediglich den eigentlichen Inhalt. Bei unserem Plan, die Trauben-Ernte der Königin zu stören sind wir auf eine regelrechte Goldgrube gestoßen. Auf flüssiges Gold: Die Fässer sind allesamt gefüllt mit feinstem Rum, mit Hochzeits-Rum, nehme ich an!“

„Rum“, richtete er seine Worte kopfschüttelnd und lachend an den Kapitän der königlichen Flotte. „Wer hätte gedacht, dass Ihr solch einen Preis für Eure Frechheiten zahlen würdet…!“.

Einige Stunden später ließ Captain Narrowbelt seinen Blick über seine bis obenhin mit feinstem Rum beladenen Schiffe schweifen, nickte zufrieden und befahl seinen Leuten den Rückzug.

Story Ed. 1 – Gleiche Flasche, aber Anker-Deko

„Macht keine Dummheiten“, rief er zum Abschied zum verbliebenen königlichen Schiff hinüber. „Sonst holen wir euch am Ende noch alle. Wir sind die Guten und weil wir das sind, lassen wir Euch noch etwas, mit dem ihr nach Hause gehen könnt: Eure Köpfe“.

Auf dem gesamten Rückweg in Richtung seiner Insel und Port Narrow stand Narrowbelt an seinem Steuerrad und schaute, in seiner Hand einen Krug des neuen feinen Rums haltend, erhaben zwischen den Schiffen und seiner Mannschaft umher.

„Du hast es geschafft“, murmelte er zufrieden.

„Du hast es geschafft, P.N.X.“, prostete er stumm nickend jedem einzelnen seiner 100 Männer zu.

Sie segelten weiter in Richtung Insel, die Schiffe vollbeladen mit Rum. „Dem gesamten Rum der Königin“, triumphierte Narrowbelt. „Dem gesamten Hochzeitstrunk ihrer Majestät“. Er lachte zufrieden. Was als beinahe einfacher Obstdiebstahl begann hatte sich unverhofft zu einem der größten Denkzettel für die königliche Flotte entwickelt. „All ihr Rum!“

Doch er irrte sich mit seiner Annahme: Was er nicht ahnte, war, dass er nicht alle Fässer erbeutet hatte. Während Narrowbelt und seine Flotte siegreich in Richtung Port Narrow fuhren, trieben vier unscheinbare Fässer, bedruckt mit dem Hinweis „Trauben-Ernte“, von aller Augen unbeobachtet auf das offene Meer hinaus…